Wie lang ist die Halbwertzeit von Äußerungen der Bundesregierung zur neuen Atomdebatte? Sehr kurz!
Am Samstagmorgen noch sagt Umweltminister Röttgen am Rande des nordrhein – westfälischen Landesparteitags, dass er eine „politische Diskussion“ über die Atomenergie angesichts der aktuellen Japan- Katastrophe für „völlig deplaziert“ halte – tags darauf verlangt er nicht weniger als eine deutsche „Grundsatzdebatte“ übers Restrisiko.
Am Samstagabend noch beteuert Kanzlerin Merkel: „Wir wissen, wie sicher unsere Kernkraftwerke sind“ – keine zwei Tage später setzt sie die erst wenige Monate alte Laufzeitverlängerung aus und ermöglicht das sofortige Abschalten alter Atommeiler. „Im Zweifel für die Sicherheit.“
Was denn nun? Reichen jetzt schon ein paar Stunden Ungewissheit über die tatsächliche Lage im Unglücksgebiet aus, um fundamentale Positionen zur deutschen Atomkraft- Lage über den Haufen zu werfen? Oder waren die regierungsamtlichen Standpunkte vor der Katastrophe doch nicht so sicher, wie Kanzleramt und Ministerien immer taten?
Beide Varianten sind erschreckend.
Das gilt erst recht für den dritten, sogar wahrscheinlichsten Erklärungsversuch für den schnellen Meinungswandel: Angela Merkel und Norbert Röttgen denken in großer Not vor allem an die eigene Sicherheit – und weniger an die Sicherheit deutscher Kernkraftwerke.
Auch wenn manche Politiker es zu spät gemerkt haben: Die neue Atomdebatte war von Anfang an alles andere als „deplaziert“, sondern unaufhaltsam. Sie wird, emotional höchst aufgeladen, in den nächsten zwei Wochen die Landtagswahlkämpfe bestimmen (vor allem in Baden- Württemberg, wo in Neckarwestheim eine veraltete Anlage vor sich hin strahlt). Sie könnte sogar wahlentscheidend sein. Wer Wie Röttgen noch vor wenigen Tagen nichts gegen längere Laufzeiten unternahm, wer (wie Merkel) die Atomkraft protegierte, hat nun ein Problem. Das sich beide nun an die Spitze der Gegenbewegung setzen, wirkt natürlich nicht besonders glaubwürdig.
Es legt aber das Handlungsprinzip offen, nach dem eine unter Druck geratene Kanzlerin schon länger agiert: Fernab von Japan geht es vor allem ums politische Überleben.
Westfälischer Anzeiger, 15.03.11 – Kommentar v. Martin Krigar